Blaue Stunde, dennoch strömt das Licht warm und kräftig durch das geöffneten Fenster herein. Das Zimmer ist sehr geräumig und zeigt eine prächtige Einrichtung: Marmor-Intarsien verzieren den Boden, opulente Teppiche bekleiden die Wände. Ein dunkler Vorhang definiert und gliedert den Raum. Durch den Vorhang wird eine Hälfte des Zimmers versteckt. Es entsteht ein Hinten und ein Vorne und so wird eine räumliche Tiefe geschaffen, die durch das Fenster ins Unendliche führt.
Hinten in der Ecke neben dem Fenster kramen zwei Dienerinnen in einer halbgeöffneten Kleidertruhe. Eine der Frauen hat kostbar aussehende Tücher auf dem Arm, die andere kniet vor der Truhe und offenbart dem Zuschauer ihre eleganten, hochhackigen Schuhe.
Vorne füllt ein rotes Bett den Raum komplett aus. Auf zerwühlten, seidig glänzenden Laken liegt eine wunderschöne junge Frau. Zu ihren Füßen schlummert zusammengerollt ein kleiner Hund.
Die Frau ist die einzige, die den Zuschauer bemerkt. Sie blickt uns direkt in die Augen, herausfordernd und verführerisch. Der Kontrast zwischen der Banalität der häuslichen Szene auf der rechten Seite und der offenen sexuellen Einladung auf der Linken lässt eine starke erotische Spannung entstehen.
Aber die Frau auf dem Bild ist kein passives Objekt der Begierde. Ihr selbstbewusster Blick zeigt, dass sie die Situation völlig unter Kontrolle hat, dass sie als einzige das Geschehen bestimmt und beherrscht.
Wenn wir diese Venus mit der Venus von Botticelli vergleichen, erkennen wir zwei gegensätzliche Abbildungen der Liebesgöttin. Die Botticelli Venus ist von perfekter, idealisierter Schönheit, wirkt jedoch unnahbar und eher kühl wie eine Marmorstatue.
Die Venus von Tiziano, genauso makellos, ist hingegen die Quintessenz der Verführung, die Verkörperung der erotisch-manipulativen Femme Fatal.
Dieses sensationelle Meisterwerk hat eine ganze Reihe von Künstler inspiriert und beeinflusst, von Goya, über Manet bis Modigliani.
Tiziano, Venere di Urbino, 1538, Öl auf Leinwand 120 x 165 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz.