Das Gemälde Primavera von Botticelli ist wahrscheinlich eines der bekanntesten und berühmtesten Meisterwerke der westlichen Kunst. Hast du es aber schon mal ein wenig intensiver betrachtet? Was passiert wirklich in diesem göttlichen Frühlingsgarten?
Die Geschichte spielt in einem üppigen Orangenhain. Um die Akteure herum, blühen und sprießen hunderte von Pflanzen- und Blumenarten, die alle im April und Mai blühen. Ganz vorne auf der Wiese sind neun klassische Gottheiten abgebildet, lebensgroß und zum Teil nahezu nackt.
Die Perspektive, eine der wichtigsten Errungenschaften des Quattrocento, wird hier fast komplett ignoriert. Die Figuren stehen alle in einer Reihe, nur Venus ist etwas zurückgesetzt, majestätisch umrahmt von einem Bogen aus Orangenästen.
Amor, der Sohn von Venus und Merkur, schwebt über seiner Mutter. Er richtet mit verbundenen Augen seinen Liebespfeil auf die drei Grazien, die zum Gefolge der Venus gehören. Daneben steht Merkur. Er vertreibt mit seinem Caduceus (Stab) die heraufziehenden Wolken und trägt ein Schwert, um die fröhliche Gesellschaft zu beschützten.
Die Harmonie der Szene wird auf der rechten Seiten dramatisch durchbrochen. Der Windgott Zephir, erkennbar an seinen geblähten Wangen, kommt im Sturzflug vom Himmel. Er dringt energisch, und ohne Rücksicht auf die Lorbeerbäumchen, in die Szenerie ein und packt beherzt eine leicht bekleidete Nymphe. Sie versucht panisch, aber vergeblich, dem Angriff zu entkommen. Neben dieser gewaltvollen Aktion flaniert vollkommen unbekümmert eine wunderschöne Frau in einem Blumenkleid und verstreut Rosen. Was ist hier los?
Was wir hier sehen, sind zwei aufeinander folgende Momente einer mythologischen Geschichte. Die Nymphe Chloris, wie der Mythos erzählt, entfachte mit ihrer außerordentlichen Schönheit Zephirs Leidenschaft. Der eher rustikale Windgott machte kurzen Prozess, fing sie und machte sie mit Gewalt „zu seiner Frau“.
Infolgedessen wurde aus Chloris Flora, die Frühlingsgöttin. Als Brautgeschenk erhielt sie einen üppigen Garten, in dem ewiger Frühling herrscht.
Dass die zwei Szenen sich nicht synchron abspielen, kannst du aus einem Detail erkennen: Die Gewänder von Chloris und Flora (die sich einander nicht zu bemerken scheinen) wehen in zwei verschiedene Richtungen.
Das Gemälde verbirgt noch viel mehr Geschichten, die unseren Rahmen sprengen würden. Ich möchte aber eine letzte, subtile Botschaft erwähnen.
Merkur, Venus und ihr gemeinsames Kind Amor werden hier mit einem Detail verbunden, das bei allen drei vorzufinden ist: der Flamme. Amor spannt einen flammenden Pfeil, Flammen züngeln am Ausschnitt der Venus und auf Merkurs Mantel. Die Flamme ist wiederum auch das Wahrzeichen des heiligen Laurentius, da er auf einem glühenden Rost gemartert wurde.
Die wiederholte Abbildung der Flamme wird kunsthistorisch als Anspielung interpretiert auf den Auftraggeber des Gemäldes, Lorenzo (italienisch für Laurentius) di Pierfrancesco, einem Cousin von Lorenzo dem Prächtigen. Das Gemälde wurde wahrscheinlich anläßlich seiner Hochzeit mit Semiramide D’Appiano (1482) angefertigt. Heute kannst du das Meisterwerk von Sandro Botticelli in der Galleria degli Uffizi in Florenz bewundern.
(Sandro Botticelli, Primavera, um 1482, Holz 203 x 314 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz)